Der Mythos des Apfels der Zwietracht (alternative Version)

Lass mich dir eine Geschichte erzählen.

Dieses ist die Geschichte Unserer Lieben Diskordischen Frau, Eris, der Tochter des Chaos, der Mutter von Fortuna. Zweifellos hast Du davon einiges im Kerenii gelesen, doch das ist die populäre Version. Ich werde Dir die wahre, die Insider-Geschichte erzählen. Ist der Gedanke eines Einhorns ein wirklicher Gedanke? In gewissem Sinn ist das die grundlegende Frage jeder Philosophie ... gut, der Gedanke eines Einhorns ist also ein wirklicher Gedanke. Genauso der Gedanke des Erlösers am Kreuz, so wirklich wie Die Kuh Die Über Den Mond Sprang, wie der Verlorene Kontinent Mu, das Bruttosozialprodukt, die Quadratwurzel aus Minus Eins, und alles andere, das fähig ist, emotionale Energie zu mobilisieren. Und so waren, und sind, Eris und die anderen Olympianer in gewissem Sinne wirklich.

Erinnerst Du Dich der Geschichte des Goldenen Apfels, wenigstens in ihrer populären und gesäuberten Fassung? Die wahre Version gleicht ihr bis auf diesen einen Punkt: Zeus - der übrigends ein unendlich langweiliger Zeitgenosse ist - versetze Olympus einen heftigen Schlag, und dieser kränkte dann Unsere Liebe Diskordische Frau, indem er Sie nicht einlud. Sie fertigte daraufhin tatsächlich einen Apfel, der war aber aus Acapulco-Gold, nicht aus metallischem Gold. Sie schrieb Kallisti drauf, FÜR DIE ALLERSCHÖNSTE, und ließ ihn in den Bankettsaal rollen. Alle Anwesenden - nicht nur die Göttinnen, wie uns ein chauvinistischer Mythos glauben machen möchte - stritten sich nun darüber, wer das Recht hätte, ihn zu rauchen. Paris wurde niemals hinzugezogen, den Streit zu schlichten; diese Idee entsprang der Phantasie irgendeines Schmalspurdichters. Auch der Trojanische Krieg war nichts weiter als ein imperialistischer Straßenkampf und hatte mit diesen Ereignissen herzlich wenig zu tun.

In Wirklichkeit lief es so ab, daß sich alle um den Apfel kabbelten, viel Schweiß vergossen und einander mit der Zeit so heftig hin- und herstießen, daß die Vibrationen irgendwann zu heavy wurden - Götter verfügen über ziehmlich hochtourige Vibrationen, um genau zu sein, Vibrationen von Lichtgeschwindigkeit - und den Apfel soweit aufheizten, daß dieser zu glimmen begann und schwere Dämpfe entließ. Mit einem Wort, es dauerte nicht lange und die ganzen Olympianer waren stoned.

Und sie hatten eine Vision, oder vielmehr eine ganze Reihe von Visionen.

In der ersten Vision sahen sie Jahwe, einen benachbarten Gott, mit seiner eigenen Welt, die sich mit ihrer eigenen in einigen Punkten überschnitt. Er war dabei, den Schauplatz zu säubern, um dessen Wertigkeit zu verändern und eine neue Show aufzuziehen. Die Methode, die er dabei anwandte, stieß sie als reichlich barbarisch vor den Kopf. Denn er ersäufte alle Familien bis auf eine, und diese Familie durfte auf einer Arche entkommen.

"Das ist Chaos", sagte Hermes. "Daß Jahwe, obwohl er ein Gott ist, eine Bösartige Mutter ist."
Und sie faßten die Vision ein bißchen näher ins Auge, und weil sie die Fähigkeit besaßen, in die Zukunft zu blicken und alle (wie jede intelligente Entität) rasende Laurel- und Hardy-Fans waren, und weil sie außerdem von dem Gras unheimlich verladen waren, sahen sie, daß Jahwe die Gesichtszüge von Oliver Hardy trug. Um ihn herum, unterhalb des Berges, auf dem er lebte (seine Welt war flach), stieg das Wasser höher und höher. Sie sahen ertrinkende Männer, ertrinkende Frauen, unschudige Kinder, die in den Wellen versanken. Ihnen war zum Kotzen zumute. Und dann kam der Andere und stellte sich neben Jahwe und betrachtete das Panorama des Horrors tief unter ihnen, und er war Jahwes Gegenspieler, und, so stoned wie sie nun einmal waren, kam er ihnen wie Stanley Laurel vor. Und dann sprach Jahwe mit Oliver Hardys unvergänglichen Worten: "Nun sieh mal, was DU mich hast anrichten lassen".

Und das war die erste Vision.

Als nächstes sahen sie eine Stadt von 550000 Männern, Frauen und Kindern, und im nächsten Augenblick war die Stadt verschwunden; Schatten blieben dort, wo eben noch Menschen sich bewegt hatten, ein Feuersturm wütete, alles brannte, Zuhälter und Kinder und ein altes Standbild eines glückseligen Buddha und Mäuse und Hunde und alte Männer und Liebende; und über allem erhob sich eine pilzförmige Wolke. Dieses geschah in einer Welt, die vom grausamsten aller Götter, REALPOLITIK, geschaffen worden war.

"Das ist Zwietracht", sagte Apollo verwirrt und legte seine Laute nieder.
Harry Truman, ein Diener von Realpolitik, trug Oliver Hardys Gesichtszüge; er blickte auf sein Werk und sah, daß es gut war. Aber neben ihm brach Albert Einstein, ein Diener des am schwierigsten erfaßbaren und gnomischsten Gottes, Wahrheit, in Tränen aus, in die wohlbekannten Tränen Stanley Laurels, der die unvermeidlichen Konsequenzen seines Karmas betrachtet. Einen Augenblick lang fühlte sich Truman aus der Fassung gebracht, dann aber erinnerte er sich der unsterblichen Worte: "Nun sieh mal was DU mich hast anrichten lassen", sagte er.

Und das war die zweite Vision.

Und sie blickten wieder hin und sahen Lee Harvey Oswald im Fenster des Texas School Book Depository sitzen; und er trug wieder das Gesicht von Stan Laurel. Und weil diese Welt von einem großen Gott names Earl Warren erschaffen worden war, feuerte Oswald die einzigen Schüsse dieses Tages und John Fitzgerald Kennedy war, wie die Heilsarmee es charmant formuliert, "zu Ruhm befördert worden."

"Das ist Verwirrung", sagte Athena, und ihre Eulenaugen blitzen dabei, denn sie war viel vertrauter mit der Welt des Gottes Mark Lane.
Dann sahen sie einen Torweg und Oswald-Laurel wurde von zwei Polizisten hinausgeführt. Auf einmal trat Jack Ruby mit dem Gesicht Oliver Hardys hervor und feuerte eine Pistole auf den zerbrechlichen schmalen Körper ab. Und dann sprach Ruby an den Leichnam zu seinen Füßen gerichtet die unsterblichen Worte: "Nun sieh mal, was DU mich hast anrichten lassen."

Und das war die dritte Vision.

Jetzt sahen sie Eisenbahnzüge, viele Züge, die alle pünktlich verkehrten und die Züge fuhren kreuz und quer durch ganz Europa und fuhren 24 Stunden lang, und sie alle fuhren zu einigen wenigen Bestimmungsbahnhöfen,die alle gleich aussahen. Dort wurde die Menschenfracht gestempelt, registriert, bearbeitet, wieder gestempelt, verbrannt und beseitigt.

"Das ist Bürokratie", sagte Dionysos und zerschmetterte voller Zorn seinen Weinkrug; sein Lux neben ihm blinzelte unheilvoll.
Und dann sahen sie den Mann, der das alles angeordnet hatte, Adolf Hitler, noch immer trug er die Maske Oliver Hardys, und er wandte sich zu einem gewissen reichen Mann, Baron Rothschild, der die Maske Stanley Laurels trug, und sie wußten, das war die Welt, vom Gott Hegel geschaffen und der Engel These traf den Dämonen Antithese. Dann sprach Hitler die unsterblichen Worte: "Nun sieh mal, was DU mich hast anrichten lassen".

Und das war die vierte Vision.

Und sie blickten weiter umher und, siehe! sie waren so high, daß sie die Gründung einer großartigen Republik sehen und die Proklamationen hören konnten, die neuen Götter mit Namen Fairer Prozeß und Gleiches Recht Für Alle. Und sie sahen viele an wichtigen Plätzen der Republik einen anderen Kult gründen und Mammon und Macht verehren. Und die Republik wurde eine Diktatur und schon bald wurden Fairer Prozeß Und Gleiches Recht Für Alle nicht mehr angebetet, und selbst Mammon und Macht erhielten nur noch Lippenbekenntnisse, denn der wahre Gott aller war jetzt Was Kann Ich Tun und sein beschränkter Bruder Was Wir Gestern Taten und seine häßliche, hinterhältige Schwester Packt Sie Bevor Sie Uns Packen.

"Das ist Ausklang", sagte Hera, und ihr Busen schüttelte sich mit den Tränen für die Kinder dieser Nation.
Und sie wurden Zeugen vieler Bombenanschläge und sie sahen viele Aufstände, viele Heckenschützen, viele Molotow-Cocktails. Und sie sahen die Hauptstadt in Trümmern liegen und den Kanzler mit dem Gesicht Stanley Laurels, der inmitten der Ruinen seines Palastes gefangengenommen wurde. Und sie sahen den Chef der Revolutionäre sich in den Trümmern und den Ruinen umsehen, und dann sprach er zu dem Kanzler und sprach die unsterblichen Worte: "Nun sieh mal, was DU mich hast anrichten lassen".

Und das war die fünfte Vision.

Und jetzt kamen die Olympianer von ihrem Trip herunter, und sie sahen einander in Ungewißheit und mit Entsetzen an. Zeus sprach als erster.

"Mann", sagte er, "das war Heavy Gras."
"Sehr heftig", stimmte Hermes ihm feierlich bei.
"Ge-wal-tig", fügte Dionysos hinzu und streichelte seinen Lux.
"Wir waren unheimlich abgefahren drauf", faßte Hera für alle Anwesenden zusammen.

Und sie wandten ihren Blick wieder dem Goldenen Apfel zu und lasen das Wort, das unsere Liebe Diskordische Frau darauf geschrieben hatte, das multiordinalste aller Wörter, Kallisti. Und sie wußten, daß jeder Gott und jede Göttin, und jeder Mann und jede Frau, in tiefstem Herzen die Allerschönste war, die Lieblichste, die Unschuldigste, die Beste. Und sie bereuten es, die Liebe Diskordische Frau Eris nicht zu ihrem Fest eingeladen zu haben: "Warum hast Du uns niemals zuvor gesagt, daß alle Kategorien falsch sind und alles Gute und Böse eine Sinnestäuschung begrenzter Perspektiven ist?"

Und Eris sprach: "Da alle Männer und Frauen Schauspieler auf einer Bühne nach unserem Vermächtis sind, so sind auch wir Schauspieler auf einer Bühne, geschaffen von den Fünf Schicksalsmächten. Ihr konntet nicht anders, als an Gut und Böse zu glauben und Euer Urteil über Eure Kreaturen zu fällen, über die Männer und Frauen dort unten. Das war ein Fluch, mit dem die Schicksalsmächte Euch belegt haben! Aber jetzt ist Euch der Große Zweifel gekommen, und Ihr seid frei."

Daraufhin verloren die Olympianer ihr Interesse am Gottspielen und wurden schon bald von den Menschen vergessen. Denn Sie hatte ihnen ein großes Licht gewiesen und ein großes Licht zerstört Schatten; und wir alle, Götter und Sterbliche, sind nichts anderes als gleitende Schatten.

Glaubst du das?

- Delay Lama

Robert Shea/Robert Anton Wilson, Illuminatus!-Der goldene Apfel, Reinbeck 1981, rororo 4696, Seite 190ff

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